Europäische Stiftung

Aachener Dom

„In einer extrem komplizierten Welt haben die großen Vereinfacher Hochkonjunktur!“

Sind die europäischen Werte gelebte Realität oder nur schönfärbende Phrasen? Sind sie unveräußerlich oder womöglich gefährdet durch nationalistische Tendenzen? Das waren die politischen Ausgangsfragen des Vortragsabends, bei dem zwei der prominentesten Fürsprecher Europas im Dom zu Gast waren. Auf Einladung der Europäischen Stiftung Aachener Dom (ESAD) nahmen die beiden Karlspreisträger Jean-Claude Juncker und Martin Schulz in der Reihe „Domgedanken“ vor etwa 400 Zuhörerinnen und Zuhörern Stellung zur angekündigten Wertediskussion. In zwei informativen und kurzweiligen Impulsvorträgen, die durchsetzt waren mit historisch-politischen Analysen, humorvollen Anekdoten sowie persönlichen Einschätzungen, führten der vormalige Präsident der Europäischen Kommission (Juncker) und der frühere Präsident des EU-Parlaments (Schulz) nach der Begrüßung durch den Stiftungsratsvorsitzenden der ESAD, Dr. Jürgen Linden, in die Thematik ein. Anschließend stellten sie sich in einer ausführlichen Talk-Runde den Fragen von Redakteurin Ines Kubat (Medienhaus Aachen) und unternahmen einen großen Streifzug durch die Europapolitik mit ihren aktuellen Krisen und Herausforderungen.

Unaufmerksamkeit gegenüber dem Schicksal anderer Völker

Die aus der christlich-jüdischen Vergangenheit erwachsenen europäischen Werte, zu denen für Juncker insbesondere Freiheit, Gleichheit, Frieden und Toleranz sowie die Wahrung der Menschenrechte zählen, seien nicht in Gefahr, wenn sich die handelnden Personen in Europa sinngemäß verhalten würden. Doch die Staats- und Regierungschefs trügen vielfach dazu bei, dass die Menschen nicht mehr verstünden, was Europa ihnen sagen wolle. Juncker forderte dazu auf, das Gemeinsame und nicht die Unterschiede herauszustellen. „Wir wissen nicht viel voneinander“, lautete seine nüchterne Feststellung. Politikerinnen und Politiker sollten nach Europa hineinhören und auf das Murmeln der Menschen achten, die auch in weit von Brüssel entfernten Randregionen mit ihren Sorgen und Problemen wahrgenommen werden wollten. Angesichts von aktuell 60 Kriegen weltweit bezeichnete Juncker die Fokussierung auf den Ukrainekrieg als„eine Unaufmerksamkeit gegenüber dem Schicksal anderer Völker“. Europa dürfe sich nicht von „Weltgestaltern“ wie China, Russland oder den USA irritieren lassen. „Wenn die Europäische Union geschlossen auftritt, sind die nicht viel größer!“

Engagement der Menschen ist ausschlaggebend

Für Martin Schulz ist das Engagement der Menschen ausschlaggebend für das Hochhalten der europäischen Werte. Da Rechtspopulismus und Rechtsnationalismus in vielen Ländern Europas auf dem Vormarsch seien, müsse man sich fragen, ob es angesichts von inneren und äußeren Angriffen gelinge, genügend Menschen zur ihrer Verteidigung zu mobilisieren. „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!“ zitierte Schulz den einflussreichsten politischen Denker im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, Edmund Burke. In diesem Zusammenhang warf er einen Blick nach Israel, wo seit Monaten jedes Wochenende Tausende Menschen zur Verteidigung der Demokratie auf die Straße gehen. Die längste Friedens- und Wohlstandperiode, die es in Europa jemals gegeben habe, sei gefährdet, wenn rechte Parteien die Oberhand gewännen. In ihrem auf den Binnenmarkt fokussierten Programm sieht Schulz die Gefahr der Zerstörung der wirtschaftlichen Basis. Auf die internationalisierte und globalisierte Welt des 21. Jahrhundert könne man nicht mit Nationalstaatsideen aus dem 19. Jahrhundert antworten. Das diffuse Angstgefühl vieler Menschen, dass ihr Leben in Wohlstand in Sicherheit künftig nicht mehr gewährleistet sei, machten sich die rechten Parteien zunutze. „In einer extrem komplizierten Welt haben die großen Vereinfacher Hochkonjunktur!“ An dieser Stelle ist für Schulz eine bessere Kommunikation das probate Mittel: Niemanden zurücklassen und bei der Problemlösung erforderliche Maßnahmen – durchaus auch Opfer – glaubwürdig vermitteln, das sei geboten! Im vergangenen Winter habe das auch geklappt. „Trotz der verteuerten Gaspreise hat sich bei uns niemand den Hintern abgefroren!“

Der rechte Zulauf ist für seinen Freund Jean-Claude Juncker kein neues Phänomen. Dennoch bleibt der ehemalige luxemburgische Premierminister entspannt. Jedenfalls so lange es lebendige und wachsame Zivilgesellschaften und Bürgerbewegungen in Europa gebe und die klassischen Parteien einen Fehler nicht machten: So zu reden wie die extremen Rechten. Bei Prinzipien wie Menschenwürde und Toleranz gebe es kein Entweder-oder. Der einzig mögliche Weg sei, sich den Rechten in den Weg zu stellen.

„So lange wir schnaufen, werden wir nicht aufhören, das zu tun,“ versprachen die beiden Politiker unter dem langanhaltenden Applaus des Publikums.

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